28. April 2024
Die Herberge von Serdio

Camino de la Costa 17: Von Comillas nach Serdio (23 km)

23. September 2018. Zwei innere Schweinehunde begleiteten uns mit hoch demotivierender Performance. Am Ende konnte nur noch das verrückte Huhn von Serdio unseren Tag retten.

Im Sonnenschein mit blauen Fähnchen nach Gerra

Es war ein lichtdurchfluteter Morgen auf dem Campingplatz von Comillas. Die Strahlen der nordspanischen Sonne brachen sich glitzernd in den Tauperlen auf dem silikonbeschichteten Ripstop-Nylonfasern unseres sandgelben Tarps. Mit einem herzhaften Fluch „Shit, das kriegen wir wohl erst mal nicht trocken!“ begann erst mal unser Tag. Auch die an den jungen Tag herangelegte Entschleunigung und das lange Ausschlafen konnten an diesem Problem erst mal nichts ändern. Also mussten wir nach einigem Ausschütteln die feuchten neun Quadratmeter unseres flexibel gestaltbaren Obdachs in seinen Beutel stopfen und ich das zusätzliche Packgewicht in Kauf nehmen. Es war auch irgendwie wieder so ein Tag, an dem ich total verpeilt war und es satte zehn Uhr schlug, als wir schließlich aufbrachen.

Attraktives Haus eines Besserbetuchten in Comillas
Attraktives Haus eines Besserbetuchten in Comillas

Comillas bot sich uns als ein schöner Ort dar, der sich in diesem goldenen Morgenlicht wirklich sehen lassen konnte. Auch der ein oder andere Besserbetuchte hatte sich hier offenbar niedergelassen und ein schmuckes Hüttchen errichtet. Wobei das oben abgebildete Haus natürlich bei schlechterer Witterung auch als Kulisse für mysteriös horrorhafte Vorgänge in einer dort ansässigen Nervenklinik mit abstrusen Experimenten im streng abgeschotteten Privatlabor des Anstaltsleiters in den Kellergewölben hätte herhalten können.

Es blieb uns aber nur wenig Zeit, über die Verwendung dieses Hauses weiter nachzudenken, denn wir versuchten, mit dem Hornvieh und dessen Antreiber Schritt zu halten. Auf gemächliche Art – also in bestem Pilgertempo – wurden Langhorn-Rinder durch den Ort getrieben.

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Spanischer Cowboy in Aktion

Eigentlich hätte es ein guter Tag werden können. Die Schmerzen in meinem rechten Fuß waren endlich weg. Das Wetter war zunächst wirklich schön, immer wieder konnten wir einen Blick auf den Atlantik werfen, aber dafür war es kein schöner Weg, meistens ging es über Straßen, an denen es laut knatterte.

Immerhin hatten wir heute das Meer öfter im Blick
Immerhin hatten wir heute das Meer öfter im Blick

Wir gewannen relativ schnell den Eindruck, dass nicht nur ein paar klassische Motorräder von den Britischen Inseln gerade ein Treffen hier in der Nähe haben mussten, sondern alle! So wurden wir von allerlei Geräusch, welches man mit in die Jahre gekommener Mechanik aus britischer Zweirad-Ingenieurskunst zu Wege bringen konnte, beglückt. Auch das stets steif im Wind stehende Auspuff-Fähnchen in diversen Shades of Blue and Grey reicherte uns den Tag auf unwillkommene Weise an. Irgendwie passen Pilgern und klassische Moppets nicht wirklich zusammen.

An der Küste bei Gerra
Ganz zufällig mal kein klassisches Moppet von den Britischen Inseln in der Nähe

Konnte es der heutige Café con Leche mit ein paar netten Snacks noch irgendwie rausreißen? Tja, wir suchten uns eine Bar in Gerra direkt an der Straße aus. Hier trafen wir auf ein russisches Pärchen an unserem Tisch. Anscheinend waren es die einzigen Nicht-Deutschen unter den Gästen, ansonsten waberten nur Gesprächsfetzen in meiner Muttersprache zu uns herüber. An unserem Nachbartisch führte eine Gruppe von Surfern eine angeregte Diskussion über die Wahlerfolge der AfD. Ich persönlich hatte überhaupt keine Lust auf dieses Thema, irgendwie war die deutsche Innenpolitik schon so ziemlich ausgeblendet gewesen und das hätte sie gerne noch ein paar Tage bleiben können. Die Diskussion war auch nicht sonderlich ergiebig, es ging nicht um irgendwelche harten Auseinandersetzungen, es waren eher links orientierte Angehörige der Generation Y, die sich wahrscheinlich über ihre gutbürgerliche Herkunft und ihr wenig reflektiertes Weltbild jenseits des Konsums kaum erklären konnten, warum die AfD so stark wurde.

Ohne also große neue Erkenntnisse gewonnen zu haben, holten wir die beiden Russen nach unserem Café con Leche relativ schnell ein. Sie lief augenscheinlich relativ unrund, er schien das allerdings nicht besonders wichtig zu nehmen. Ich fragte ihn auf Englisch nach Problemen, er sah aber keine. Mir tat die doch schon stark humpelnde junge Frau ziemlich Leid, aber ich konnte mich mit ihr nicht verständigen. Als wir schließlich an der Puente de Maza eine längere Pause machten,  tauchten die beiden nicht mehr auf. Wir genossen noch ein paar Bananen an der berühmten Brücke, auf der es auch wieder britisch knatterte und vertieften den Entschluss, nicht mehr sonderlich weit zu laufen und in San Vicente de la Barquera zu bleiben.

Tristes Grau in Grau

Unsere Motivation war an diesem Tag bei Vasek und mir gleichermaßen im Keller. Passend dazu schoben sich hinter Gerra graue Wolken über die Sonne und es begann eine kühlere Phase, die auch noch die nächsten Tage anhalten sollte.

Mit ziemlichen Wegfindungs-Schwierigkeiten und der Navigation mit analogen und digitalen Medien kamen wir an der Herberge von San Vicente an. Diese gehört zu einem größeren Komplex unterhalb einer älteren und größeren Kirche. In meinem gelben Reiseführer wurde schon beschrieben, dass die hochbetagten Hospitaleros die Albuerge wohl nicht mehr optimal im Griff hatten. Aber als wir dort ankamen, war sie geschlossen.

Ria in der Nähe von San Vicente
Ria in der Nähe von San Vicente

Zunächst dachte ich noch, dass es noch zu früh am Tag war, so schauten wir uns die Kirche oberhalb an. Natürlich war diese auch wieder verschlossen und wir konnten nur durch ein Gitter in das dunkle Innere schauen. Immerhin konnten wir das Pilgertor bestaunen.

Kirche von San Vicente mit dem Pilgertor
Kirche von San Vicente mit dem Pilgertor

Als wir zurück zum Eingang der Herberge kamen, war dort kein Pilgerer und erst recht kein Hospitalero zu sehen. Vasek fand über das Internet heraus, dass die Herberge permanent geschlossen war. MIST! So mussten wir die die nächsten acht Kilometer nach Serdio angehen, aber nicht ohne vorher noch telefonisch in gebrochenem Spanisch à la Stijn zu reservieren. Mist bedeutet in Englisch Dunst oder Nebel, und genau das begleitete uns nun die weitere Strecke.

Nach einem härteren Anstieg zwängten wir uns durch einen Busch zu einer kleinen Bank und machten unterwegs noch mal ein Päuschen auf einer feuchten Bank. Vasek reichte mir einen extrem sauren Apfel – wo immer er ihn auch herbekommen hatte – aber auch dieser konnte mich nicht begeistern. Ich wollte in dieser Situation echt mal wissen, wer diesen blöden Spruch „Sauer macht Lustig!“ in die Welt setzte. Für mich waren die Vertreter dieser Ansicht an diesem Tage ebenso glaubwürdig wie der amtierende amerikanische Präsident, die Anhänger der Scheibenwelt oder die Person, die von sich behauptet, mit einem kommunistischen Känguru in einer gemeinsamen Wohnung zu leben. Nur dazu: Kängurus sind braun, haben ein kleines Gehirn und meist nichts im Beutel und sind bei ihren großen Sprüngen zum großen Teil schwanzgesteuert. Es können nur AfD-Anhänger sein.

Das triste Grau in Grau passte zu der Stimmung an diesem Tag
Das triste Grau in Grau passte zu der Stimmung an diesem Tag

Nach ein paar weiteren Hügeln rauf und runter hatte ich einen meditativen Moment. Ich fand die Zeit und die Muße, über eigene leidvolle Erfahrungen und auch die von anderen in meinem Umfeld nachzudenken. Mein 50. Wiegenfest war ja nicht mehr fern und an diesem Tag ergab sich auch die Gelegenheit, etwas mehr Tiefgang in meiner Pilgerschaft zu bekommen. Eigentlich, und vertiefter noch in der Rückschau, zum richtigen Zeitpunkt. So entwickelte ich für die extra Strecke auch eine extra Dankbarkeit. Meine klammheimliche aufkeimende Begeisterung war aber nicht mit den fortlaufenden Flüchen von Vasek kompatibel, so teilte ich meine Eindrücke auch nicht mit ihm.

Die Wende des Tages durch das freundliche Huhn von Serdio

Kurz vor Serdio ließen wir uns zur weiteren Wegfindung an einem herunter gekommenen Bushäuschen nieder. Dort trafen wir auf ein Huhn und sozialisierten uns sogleich mit dem Federvieh. Es hatte keine Scheu vor uns und stolzierte auch vor uns herum. Wir reicherten den Speisezettel des Huhnes durch ein paar Krümel meiner Kekse an und wurden durch aufmunterndes Gegacker belohnt.

Das Huhn von Serdio
Das ganz und gar nicht „verrückte Huhn“ von Serdio

In der kleinen Herberge von Serdio geschah das Einchecken auf seltsam bürokratische Weise. Man musste sich erst ein freies Bett suchen und die Nummer bei der Registrierung angeben. Soweit ich gelesen hatte, war die Einrichtung auch in öffentlicher Trägerschaft, da mussten sich dann wohl auch die Amtfrauen und -männer ein wenig bei den organisationellen Dingen austoben.

Die Herberge von Serdio
Die Herberge von Serdio

Die Temperaturen sanken in einen Bereich, den man im Ruhrgebiet schon mit dem Terminus „schattig“ zu bezeichnen pflegt. Es wurde also relativ frisch. Damit keine Chance, das Eingangs dieses Tages schon thematisierte Tarp zu trocknen. Und schon gar nicht die Wäsche, die wir noch schnell an der Hinterseite des Hauses erledigten. Trotz einer Chance von nahezu null, meine Klamotten in den gelegentlichen Nieselschauern wieder trocken zu bekommen, hängte ich ich sie neben dem schwarzen Hauch von gespitztem Nichts eines sehr femininen Slips an die Leine.

Da ich keine weiteren Vorräte mehr dabei hatte, mümmelte ich für die Zeit bis zur Öffnung der örtlichen Bar im Beisein von Gregor aus der Nähe von Hannover an meinen gesunden Keksen. Insgesamt war die Stimmung in der Herberge nicht so perfekt, dabei waren die Duschen in Ordnung und die Betten auch. Nur um der aufkommenden Kühle zu entgegnen, musste ich im Zwiebelprinzip quasi den Restbestand an Kleidung aufbieten.

Vasek wurde von einer sehr gesprächsfreudigen amerikanischen Pilgerin in Beschlag genommen, mit der er das Stockbett teilte. Trotz ihrer aufkommenden Erkältung war der seichte Redeschwall etwas zu viel für meinen eher einsilbigen Kumpan. So waren wir beide froh, noch in die einzige Bar des Dorfes gehen zu können. Das Alter der Gäste hatte eine bemerkenswerte Spannweite von geschätzten 6 bis 76. Im Fernseher an der Wand lief das Spiel des FC Barcelona gegen Girona, also ein katalanisches Derby. Wir hielten uns aber mehr an die leckeren Gerichte aus der deftigen Küche und den starken Vino Tinto, bevor wir gerade noch rechtzeitig vor Türesschluss in die Herberge zurückkehrten.

Fazit des Tages: Mit Plan B ist auch ein 1B-Ergebnis möglich.

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