26. April 2024

Heimat

Ist das noch meine Heimat? Wird das jemals meine Heimat? Können wir eine gemeinsame Heimat finden?

Am 31. August 2018, also wenige Tage nach den rechten Jagdszenen nach dem Mord in Chemnitz hatte ich in meiner S-Bahn von Wiesbaden nach Frankfurt eine unschöne Begebenheit, die mir bewusst machte, wie kompliziert eigentlich der ganze Konflikt mit Migration ist, und was für Herausforderungen wir mit unserer Heimat, die auch Heimat für andere sein sollte, haben.

Ich saß neben einem Mann, der vom Alter her etwa in den 60ern war. Mir schräg gegenüber saß eine asiatische Frau, vermutlich von den Philippinen. Sie hatte ihr zweijähriges Kind auf dem Schoß sitzen. Dieses kleine Mädchen begann, dem Mann gelangweilt und wiederholt gegen das Bein zu treten, wie Kinder halt so sind und wie ich das auch von meiner Tochter von früher her auch kenne.

Der Mann hat das Kind freundlich, aber bestimmt angesprochen und gesagt, dass ihn das Treten stören würde. Die Mutter der Kleinen hatte das offensichtlich nicht richtig verstanden. Sie schaute den Mann verärgert und verwirrt an. Vielleicht hatte sie auch nicht mitbekommen, dass ihr Kind den Mann getreten hatte. Sie sprach ihn mit gebrochenem Deutsch an, dass da nichts wäre mit getreten und er solle richtig reden. Sie forderte ihn auf, Englisch mit ihr zu sprechen. (Daher gehe ich davon aus, dass sie eine Philippina war, dort ist Englisch weiter verbreitet als in anderen asiatischen Ländern.)

Der Mann machte dann einen schlimmen Fehler. Um ihr zu verdeutlichen, was ihn genau störe, fragte er sie, ob er sie einmal treten solle. Offenbar verlor er die Geduld und wusste nicht, wie er seinen Standpunkt verbal deutlich machen sollte. Er wollte also sein aktuelles Problem nicht hand- sondern fußgreiflich deutlich machen. Schließlich trat er der Frau leicht gegen das Bein.

Die Frau sah den Mann verwirrt an und brach in Tränen aus. Sie sagte, dass ihr deutscher Mann sie noch nie geschlagen hätte. Ich lebe auch in einer binationalen Ehe mit einer Asiatin und ich weiß, dass ihr der Tritt hundertmal mehr an der Seele als am Bein wehtat. Das zu einfach auf die Problemlösung hin strukturierte Denken des Deutschen traf mit voller Wucht auf die Schamkultur der Asiatin. Sie muss dieses als eine absolute Herabwürdigung empfunden haben. Sie äußerte Ihre Entrüstung sehr laut so dass es der gesamte Wagon mitbekam. Der Mann erntete mehrfaches Kopfschütteln.

Es tat ihm wirklich Leid. Das äußerte er durch zigfach wiederholte Entschuldigungen. Aber er kam nicht mehr bei ihr durch, auch das kenne ich aus meiner eigenen Familie. Wenn ein bestimmter Punkt der Scham überschritten ist, ist ein „Hotfix“ nicht mehr möglich, dann braucht es erst einmal Zeit zur Heilung. Nach kurzer Zeit verließ die Frau ihren Platz und ging weiter nach vorne. Auf den Platz setzte sich später eine Deutsche Frau mit einem Baby und ich hoffte, dass es kein weiteres Problem gab. Der Mann blieb auf seinem Platz, still und in sich gekehrt.

Mir taten beide so Leid, die Frau und der Mann. Beide werden sicher einen beschissenen Tag gehabt haben. Vielleicht denkt sie, dass viele Deutsche kalt und aggressiv sind, dass ihr das wegen ihrer Herkunft passiert ist. Der Mann war sicher auch verwirrt. Ich kann mir vorstellen, dass er Schwierigkeiten haben dürfte, das Geschehene einzuordnen. Vielleicht fragt er sich, warum seine ehrlich gemeinten Entschuldigungen ausgeschlagen wurden. Vielleicht ist dies der Keim eines Gedankens, dass er sich durch die Migration nicht mehr heimisch im eigenen Land und in der Art des Zusammenlebens fühlen kann. Und nicht nur er empfinden am Ende die Frau als unverschämt, weil sie seine ehrlich gemeinten Entschuldigungen nicht angenommen und sie ihre Opferrolle weiter „inszeniert“ haben könnte.

Ich habe mich über mich selbst geärgert, weil ich nicht versucht habe, mit beiden ins Gespräch zu kommen. Aber man muss halt pünktlich zur Arbeit … Mir blieb am Ende nicht viel mehr, als beide in einem stillen Gebet zu segnen.

Wie kann man es schaffen, dass sich diese Frau bald und sich dieser Mann noch heimisch in unserem Land fühlen? In einem Land, in dem dieses kleine Kind „gut und gerne lebt“. Eine glückliche und behütete Kindheit erlebt und später etwas hervorbringt, das nicht nur ihre Mutter stolz macht sondern auch einen positiven Einfluss auf diesen Mann bringen könnte? Vielleicht wird sie mal eine Chemikerin  und entwickelt ein Medikament, das diesen Mann von einer Krankheit heilen kann. Vielleicht rührt sie einmal als Künstlerin das Herz dieses Mannes an. Vielleicht betreut sie einmal die kleine Enkeltochter dieses Mannes und sorgt liebevoll dafür, dass Reisende im Zug nicht von dieser getreten werden. Das nur mal gesagt, um anzudeuten, was wir alle durch wachsenden Rassismus zu verlieren haben.

Wir dürfen das komplizierte Problem mit der Migration nicht allein solchen Menschen überlassen, die ihr Halbwissen mit einfacher Polemik auffüllen (müssen). Das gilt sowohl für Rechts als auch für Links.

Ich denke, dass beispielsweise Konzerte gegen Rechts noch nicht mal der Ansatz einer Lösung eines Problems sind, bei dem  zu viele mit dem nackten Finger auf angezogene Leute zeigen und lautstark scheinbar einfache Wege vorgeben.

Mit hat dieser Vorfall gezeigt, dass wir alle mit viel Geduld an unserer gemeinsamen Heimat arbeiten müssen. Kleine nachhaltige Schritte gehen, um wirksame Änderungen zu schaffen. Das kann und darf man Politikern, Journalisten und Musikern nicht allein überlassen. Wir müssen uns bemühen, das ganze Bild zu sehen und andere dazu anleiten, ihre Perspektive zu erneuern und zu erweitern.

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